Susanne Altmann
Mehr als Schatten.
Einige Überlegungen zu Hannah Schneiders Arbeiten 2006-2009

 

Seine „Kurze Geschichte des Schattens“ beginnt Victor I. Stoichita mit dem Anfang, nämlich mit Plinius, dessen Naturgeschichte und der Geburt der Bildkünste aus dem Geist des Schattens. Die berühmte Passage von Plinius klingt heute noch so einleuchtend wie vor knapp 2000 Jahren: „Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades aus Sikyon als erster, porträtähnliche Bilder aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichtes mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit daraufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte und ausstellte;…“ (Plinius, Naturgeschichte). Zuvor reflektiert der antike Autor darüber, dass auch Malerei nur entstehen konnte, weil eine Kontur eines menschlichen Schattens zur Entdeckung der Zeichnung und damit zu allen weiteren Kunstformen führte. Um diese Theorie nachzuvollziehen, ist kein tieferes historisches Wissen nötig; ein Blick auf die Figurendarstellungen der alten Ägypter wie auch auf die schwarzfigurigen Vasen der Griechen, wie ihn auch Stoichita alsbald unternimmt, reicht, um zu sehen, wie Linien die Silhouetten von Körpern gleichsam dingfest machen und diese, so simpel wie Netzhautbilder, nachprägen. Und auch obwohl niemand, nicht einmal Platon selbst, die Schattenreihe der spekulativ vorbeigetragenen Gegenstände in seinem Höhlengleichnis je gesehen hat, hat sich in abertausenden individuellen Interpretationen dieser Schattenfries in das kulturelle Bewusstsein des Abendlandes eingezeichnet (gleichviel das Gleichnis Platon dazu diente, die Gültigkeit der Bildkünste im Vergleich zu den ewigen Ideen des Schönen und Göttlichen nachhaltig zu diskreditieren). Letztendlich ist es die Wand, die der Höhle oder des Hauses und nicht das Blatt Papier oder die Leinwand, die wir als das ursprünglichste Medium der Bildnerei begreifen müssen. In diesem Sinne sind es in Hannah Schneiders Schaffen auf immer wieder Wände, die als primärer Träger von visuellen Informationen dienen.

Im Gefolge nun dieses berühmtesten aller existenten und nichtexistenten Schattenrisse, nämlich des platonischen, steht außer Frage, dass die Projektion von Umrissen und die daraus folgenden Lineaturen bislang ihren Zauber nicht eingebüßt haben. Für Hannah Schneider stellen sowohl Schattenprojektionen wie auch Umrisszeichnungen eine unerschöpfliche Inspirationsquelle dar. Bereits 2006 realisierte sie die Rauminstallation „kleine Freiheit“, bei der sie beide Techniken – Projektion und Linie – verband. Dafür druckte sie zarte, unbekleidete Frauengestalten direkt auf die Wand, gab in der Binnenzeichnung nur gerade so viel Informationen, dass das Geschlecht definiert war und richtete Punktstrahler auf diese Setzungen. Zwischen Abbild und Lichtquelle montierte sie aus Modejournalen ausgeschnittene Kleidungsstücke, deren Schatten so auf die Figuren fiel, dass diese durch den Schatten der Textilien wieder angezogen wurden. Hier drängen sich Erinnerungen an Emily Jacirs frühe Zeichnungsserie „From Paris to Riyadh (Drawings for my mother) Février 1992“ (1999–2001) auf, in denen die palästinensische Künstlerin sämtliche nackte Körperteile von Modells in der Modezeitschrift „Vogue“ mit schwarzen Übermalungen versah und damit auf den visuellen Sittenkodex des Islam anspielte. Nun ist Jacirs Intention deutlich politisch grundiert, doch die Serie ihrer auf Transparentpapier ausgeführten Zeichnungen mit ihren schattenhaften Wiederholungen von einzelnen weiblichen Körperteilen, die sie symbolisch verhüllte, stellt sich als anmutiges Ornament von Silhouetten dar und legt eine Verwandtschaft zu Hannah Schneiders Verhüllungen in „kleine Freiheit“ nahe. Mit ihrem suggestiven poetischen Gehalt und mit ihrem subtilen Kommentar zum absurden Diktat von Moden, erfüllte diese Arbeit den Raum mit einer tänzerischen Choreografie und einer ephemeren Leichtigkeit und erinnerte damit wiederum an Nancy Speros Stempeldruckinstallationen wie „Let the Priests tremble“ (Birmingham, 1998) oder „Premiere“ (Wien, 1993). Die damit beabsichtigte Feier von weiblicher Körperlichkeit und Lebenslust beruft sich bei der amerikanischen Künstlerin häufig auf antike und historische Frauengestalten, die in völliger Missachtung von Chronologie und Geschichtsschreibung ein Klima überzeitlicher Relevanz erzeugen. Dieses Moment der Unabhängigkeit von zeitlichen Kontexten und die Affinität zu einer quasi-mythischen Atmosphäre sind ebenso bei Hannah Schneider zu beobachten. Auch ihre Arbeit „Bodenhaftung Oben Ohne“ (2006) griff wiederum auf schattenhafte Projektionen von Zeichnungen zu: Während sich am Boden irdische Schwere in Form von sarkophaghaften Hüllen ebenfalls am menschlichen Maß und den entsprechenden Körperlinien orientiert, haben sich die aus den Kopfbereichen der Gipskokons abstrahlenden Bilder an der Decke von jeglicher Gravitation gelöst. Die dort aufscheinenden Collagen aus Zeichnung und Fotografiedetails setzen menschliche und tierische Wesen paarweise miteinander in Beziehung, fast zu Piktogrammen reduziert. Während das Menschenwesen mit der eigenwilligen Frisur Vorbilder aus Matthew Barneys frühen „Cremaster“-Filmen, wenn auch ohne deren Dämonie, evoziert, so gleicht der animale Teil des jeweiligen Duos (Wal, Elefant, Wolf, Flughund) eher Tierzeichnungen von Joseph Beuys und dessen schamanistisch-unscharfer Naturauffassung.

Nun scheint Beuys in zweierlei Hinsicht für Hannah Schneider prägend zu wirken. Zum Einen ist es dessen tastende Strichführung und monochrome Binnenkoloration, die sie fasziniert. Besonders in den Blättern der späten 1950er Jahre, wie sie in der Sammlung van der Grinten vorliegen, orientierte sich Beuys an einem prähistorisch-archaisch gefärbten Formenschatz, der zwischen moderner Körperabstraktion und Höhlenmalerei changiert. Die Gestalten mit ihrer verfließenden Kontur deuten auf eine vorzeitliche, naturreligiöse Einheit von Mensch und Tier hin und bereiten die späteren zivilisationskritischen Environments des Künstlers vor – ein weiterer prägender Aspekt. Ob Hannah Schneider nun mit den Paarungen von „Bodenhaftung Oben Ohne“ eine direkte Referenz an Beuys beabsichtigt oder nicht, sowohl in der formalen Führung der Zeichnungen wie auch in ihrer Anlehnung an frühzeitliche Mythen lässt sie diesbezügliche Nähe erkennen. Das wird einmal mehr in einer weiteren Arbeit offenbar, nämlich in „o.T.“ (Arbeitstitel „Tiefseetaucher“, 2007). Die zwölf vorbereitenden Skizzen mit Bleistift und Sprühlack bilden einen eigenständigen Werkblock von großer Dichte – hier treiben organische Flächen wie schwerelos auf dem Papiergrund und bieten zunächst kaum gegenständliche Assoziationsmöglichkeiten. Was wird hier so formsicher und experimentell vorbereitet? „o.T.“ demonstriert einmal mehr Hannah Schneiders Stärke für zurückhaltende Gesten und ihr Vermögen, Zeichnung in benachbarte Medien zu übersetzen. Während sie in „kleine Freiheit“ und „Bodenhaftung“ mit Projektionen bzw. mit Licht und Schatten arbeitet, also das Immaterielle zum Werk definiert, spielt in „o.T.“ das Material in seiner Dreidimensionalität die Schlüsselrolle. Da es sich aber um Papier handelt, in das die Silhouetten eines Rochens und eines schwimmenden Mädchens eingeprägt wurden, verfließen die Grenzen zur Zweidimensionalität erneut. Die Formen auf dem Blatt werden von den schwachen Lichtreflexen an ihren Rändern zum Leben erweckt. Der weiße Schatten, so paradox das klingt, ist ein illusionistischer Schatten, der dennoch auf das Licht nicht ganz verzichten kann. Zudem kommen weitere Täuschungen ins Spiel, so ähnelt der Rochen vielleicht einem Kleidungsstück und die Figur, deren Rock im imaginären Wasser über dem Kopf schwebt, ihrerseits einem Fisch. Von diesem wäßrigen Ausgangspunkt her schwimmt die weibliche Gestalt mit dem wehenden Rock geradewegs in eine aktuelle Arbeit. „Wandstand“ (2009) überträgt das Motiv nun in eine Art Performance mit Objekten und lebender Akteurin und bleibt dennoch zeichnerisch. Für den Film komponiert Hannah Schneider ein lebendes Bild auf die Wand und nimmt in der eigenen Bewegung und in einer knappen Animation die Form des sich umstülpenden Rockes wieder auf. Im Handstand der Protagonistin entfaltet sich das Kleidungsstück zu seiner bedeckenden und gleichzeitig beschirmenden Funktion – eine Art multifunktionales Zelt, das in der persönlichen Ikonografie der Künstlerin auch wieder zu den Verhüllungen von „kleine Freiheit“ zurückweist. Als Schablone und Negativform klingt der Rock als gedoppelter Schatten auf der Wand links mit und stellt uralte, fast platonische Fragen nach dem Verhältnis von Gegenstand und Abbild, zumal er sich von den Holzgerüsten rechts nach links gewissermaßen entmaterialisiert. Die Abwicklung der Formen direkt auf die und an der Wand lässt diese Wand zu der genannten klassischen Projektionsfläche werden und schreibt die bildnerische Entwicklung im Schaffen von Hannah Schneider fort. In der vorgeführten Körpertechnik emanzipiert sich der Umriss dann auch wieder rückwirkend vom Bildträger in den Raum – ein Kreislauf frei nach Plinius.

In ähnlicher Weise operierte Hannah Schneider bereits 2008 aktionistisch im Außenraum, dort mit einer anderen Negativform. Für die Arbeit „Vom Goldenen Vlies“ zeichnete sie sozusagen mit der Schere, indem sie aus einem trivialen Flokati-Teppich (auf dem symmetrisch zwei Wappenlöwen aufgebracht waren) einen Teil in Form eines Tierfells herausschnitt. Was zurückblieb, war die entsprechende Fehlstelle mit Blick auf die Umgebung am Dresdner Elbufer. Für einen traditionellen Scherenschnitt wirkt dieser Vorgang natürlich eher brachial oder dekonstruierend und geht mindestens so weit über Material und Technik hinaus wie Felix Droeses monumentale Scherenschnitte von der Dresdner Frauenkirche vor deren Rekonstruktion. Droese ist ein bekennender Beuys-Schüler, für den prozessuale und soziale Fragen die Wahl der künstlerischen Mittel bestimmen. Droeses „The Dresden Window“ (1993) kritisierte den Aufbau der Dresdner Frauenkirche als einen Akt, der eine spirituelle Leerstelle in der zerbombten Stadt künstlich füllt und den visuellen horror vacui vor die Einsicht des Erinnerns stellt. Hannah Schneider knüpft hier unbewusst, doch nicht weniger metaphernstark an, indem sie das „Goldene Vlies“ als artifiziellen Fetisch zwischen den städtischen Wappenlöwen entfernt und den klischeehaften Elbblick freigibt auf einen erprobt romantischen Ort der Künste. Doch damit nicht genug, überträgt sie Reflexionen über das lokale Geschehen am Produktionsort auf eine mythologische Ebene, nämlich auf jene antike Sage von Gier und Geschwisterliebe und von einer Luftbrücke zwischen Europa und Asien (wie sie der Krim-Pilot Joseph Beuys nicht hätte besser erfinden können). Das herausgetrennte Mittelteil des Teppichs, das Positiv gewissermaßen, dessen Rückseite zudem golden schimmert, wird bei der Flussquerung auf einer symbolträchtigen Europalette nass. Während das falsche Widderfell erst fast wie ein Schatten oder ein einfacher, gezeichneter Umriss auf dem Untergrund liegt, beginnt es sich beim Trocknen aus der Fläche in eine körperhafte Form zu wölben. Damit wiederholt dieses „Goldene Vlies, made in Dresden“ nicht nur im Schnelldurchlauf die eingangs genannte Genese der Bildkünste aus dem Geist der primären Kontur, sondern auch den Transfer archaischer Mythen in ebendiesen Künsten, der seine Anziehungskraft bis ins 21. Jahrhundert nicht einbüßt.